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«Die Welt hat sich dramatisch verändert»

«Die Welt hat sich dramatisch verändert»

Politologe Ian Bremmer über den aufkeimenden chinesischen Traum, das weitverbreitete politische Unwohlsein und den demokratischen Vorzeigefall Schweiz.

Ian Bremmer (50) ist ein US-amerikanischer Politikwissenschafter und Bestsellerautor. Er ist Gründer und Präsident der Beratungsfirma Eurasia Group sowie Initiator des Global Political Risk Index (GPRI).

Ian Bremmer

"Ich befürchte, die Lage wird schlimmer."

- Ian Bremmer

Interview Manuel Rybach, Global Head Public Affairs and Policy, Credit Suisse

Ian Bremmer, die Befragten möchten den Fortschritt bei politischen Themen weniger beschleunigen als bei wirtschaftlichen und gesellschaftlichen. Was ist Ihre Erklärung dafür?

In vielen Demokratien, insbesondere in den Industrieländern, haben viele Menschen das Gefühl, das System funktioniere nicht mehr: Egal was sie tun, egal für wen sie stimmen, die Strukturen ändern sich trotzdem nicht, der Gesellschaftsvertrag greift nicht mehr. Dieses Gefühl ist seit Jahrzehnten verbreitet, auf beiden Seiten des politischen Spektrums, es bildet die strukturelle Grundlage für den Populismus und die Anti-Establishment-Stimmung, die wir in vielen Demokratien auf der Welt beobachten. Nennen Sie es ein politisches Unwohlsein. Nicht, dass die Menschen nicht wollen, dass sich die Politik verbessert: Sie hielten Veränderungen für realistisch, aber es ist einfach nichts passiert. Und so haben viele resigniert.

Dieser Resignation zum Trotz kritisieren viele Befragte die wachsende Polarisierung dezidiert und wollen diese Entwicklung umkehren. 

Die starke politische Polarisierung hat sich in relativ kurzer Zeit herausgebildet. Es ist möglich, dass die Menschen daher das Gefühl haben, es liesse sich noch etwas verändern. Twitter zum Beispiel hat entschieden, dass es keine politischen Anzeigen mehr zulassen wird. Aber das Resultat sagt mir auch, dass die Menschen auch hier die Hoffnung aufgeben könnten, wenn nichts geschieht und sich die Polarisierung weiter akzentuiert. 

In den USA ist die Mitsprachekraft der sozialen Medien das politische Thema, das am meisten Unterstützung für Fortschritt findet. Ein überraschender Befund in Zeiten gefälschter Nachrichten und eines «Twitter-Präsidenten»?

Nicht unbedingt. Social Media sind noch relativ neu und sind eine Technologie, die sich besonders für Menschen eignet, die soziale und politische Veränderungen fordern und erwarten. Das Problem ist, dass die sozialen Medien die Gesellschaft bisher mehr gespalten haben, als sie zu einigen. Solange sie nicht in der Lage sind, das Versprechen des Wandels, also der Verbesserung des täglichen Lebens, zu erfüllen, werden wir eher einen «Techlash» erleben, also eine Gegenreaktion, wie sie derzeit auch im US-Präsidentschaftswahlkampf und von einer Reihe europäischer Politikerinnen und Politiker verkündet wird.

Die drei Länder mit dem grössten Appetit auf politischen Fortschritt sind China, Brasilien und Indien. Warum?

Wir mögen mit ihnen einverstanden sein oder nicht, aber diese drei Länder haben sehr starke politische Anführer und sie bewegen etwas. Xi Jinping ist Chinas stärkstes Staatsoberhaupt seit Mao und die Korruptionsbekämpfung war ein wichtiger Aspekt seines politischen Programms. In Indien gewann Narendra Modi letztes Jahr eine grosse Wahl. Er ist bei Hindus wegen seines Nationalismus enorm beliebt, weniger bei der muslimischen Bevölkerung. Eine ähnliche Situation herrscht in Brasilien vor mit Jair Bolsonaro und seinem Kampf gegen die Bereicherung der Eliten. Die Menschen haben das Gefühl, dass er das politische System in einer Weise verändert, wie es kein anderer brasilianischer Politiker in den letzten Jahrzehnten getan hatte.

Am anderen Ende des Spektrums liegen Australien, die Schweiz und die USA. Warum sind die Menschen in diesen Ländern eher fortschrittsskeptisch?

In Australien hat es viele politische Veränderungen gegeben, mit vier Regierungschefs in sechs Jahren, das untergräbt den Glauben an das System. In den Vereinigten Staaten hat sich nicht viel verändert, seit Trump gewählt wurde, er hat die meisten seiner Versprechen nicht erfüllt – es gibt beispielsweise noch immer keine Mauer zwischen den USA und Mexiko. Der Edelman Trust Index zeigte, dass die allgemeine Zustimmung und die Vertrauensraten für Organisationen und Institutionen in den USA auf einem sehr niedrigen Niveau liegen. Die Position der Schweiz mag überraschen, denn das dortige politische System hört dem Volk wirklich zu, das Land wird nicht von einer, sondern von verschiedenen Parteien regiert. Es kann gut sein, dass in der Schweiz die Menschen generell zufrieden sind und nicht das Gefühl haben, dass viel Veränderung stattfinden muss.

Was hat Sie von allen Ergebnissen am meisten überrascht?

Dass die Chinesen besonders enthusiastisch sind gegenüber Veränderungen – wobei dies nicht unbedingt mehr Demokratie bedeutet. Und dass die Amerikaner am wenigsten begeistert sind. Wenn der durchschnittliche Chinese mehr an den chinesischen Traum glaubt als der durchschnittliche Amerikaner an den amerikanischen Traum, wird einem plötzlich klar, dass sich die Welt dramatisch verändert hat. Denn die USA haben ihre Macht historisch gesehen nicht in erster Linie durch militärische Mittel, sondern durch bessere Ideen verteidigt.

Wenn Sie einen bestimmten politischen Trend in Ihrem eigenen Land stoppen oder beschleunigen könnten, was wäre das?

Ich denke, das grösste Problem in den Vereinigten Staaten ist die Tatsache, dass Partikularinteressen zunehmend politisches Gehör erhalten. Diese Entwicklung begann vor Jahrzehnten und hat sich in den letzten Jahren verstärkt. Das muss aufhören. Wir leben in einer Zeit mit Wirtschaftswachstum, das jetzt abnehmen könnte – ich befürchte, die Lage wird schlimmer.

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