Jugendbarometer 2022: Mythos Meritokratie?
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Jugendbarometer 2022: Mythos Meritokratie?

Egal woher man kommt, welche Hautfarbe man hat, welches Geschlecht oder welchen sozialen Status: Wer sich genügend anstrengt und Leistung erbringt, erfährt Anerkennung und schafft es ganz nach oben. Das ist das Versprechen der modernen Leistungsgesellschaft, auch bekannt unter dem Begriff der Meritokratie. Das Leistungsprinzip, welches seinen Ursprung in der Aufklärung hat, war seit den 1980er Jahren «en vogue». Die Idee, dass der finanzielle und soziale Status nicht mehr vererbt, sondern erarbeitet wird, hat lange Zeit grossen gesellschaftlichen Anklang gefunden.

In den letzten Jahren wurden jedoch vermehrt auch die Schattenseiten der modernen Leistungsgesellschaft diskutiert und der Hype rund um das Leistungsprinzip zunehmend entkräftet. Ist die Meritokratie tatsächlich ein Mythos? Und: Was halten Jugendliche heute von der Idee der Leistungsgesellschaft? Ist sie noch so angesagt wie 1980 oder längst nicht mehr erstrebenswert?

Von sozialer und finanzieller Anerkennung

Fragt man Jugendliche im Jahr 2022 danach, was sie höher gewichten, die finanzielle oder die soziale Anerkennung, so fällt die Tendenz ganz leicht in Richtung finanzielle Anerkennung aus. Für Schweizer Jugendliche ist die soziale Anerkennung jedoch mittlerweile fast gleich wichtig wie die finanzielle. Das ergibt das Credit Suisse Jugendbarometer, eine repräsentative Befragung von Jugendlichen zwischen 16 und 25 Jahren in der Schweiz, den USA, Brasilien und Singapur.

Unter den befragten Ländern ist die finanzielle Anerkennung unter Jugendlichen in Brasilien und den USA am ehesten noch wichtiger als die soziale Anerkennung. Jedoch liegen alle Länder relativ nahe am Mittelwert und gewichten die finanzielle Anerkennung nur leicht höher als die soziale.

Dass die soziale Anerkennung durch die Corona-Pandemie stärker ins Bewusstsein gerückt wurde, ist naheliegend. Beispielsweise hat die Pandemie für viele offen gelegt, dass systemrelevante Berufe tendenziell schlecht bezahlt sind. Diejenigen, die in Pflege- und Gesundheitsberufen Bemerkenswertes geleistet haben, wurden mit Lob, Wertschätzung und Dankbarkeit, jedoch nicht unbedingt monetär anerkannt.

Zuversicht und Eigenverantwortung bei der Altersvorsorge

Junge Menschen sind zuversichtlich, dass im Rentenalter genügend Geld da sein wird, um ein komfortables Leben zu führen. Dieser Ansicht ist die Mehrheit der Jugendlichen in allen befragten Ländern. Am stärksten ist diese Zuversicht unter brasilianischen Jugendlichen (64%), am geringsten unter jungen Schweizerinnen und Schweizern (54%). Jedoch nimmt die Zuversicht für ein komfortables Leben im Rentenalter auch unter Schweizer Jugendlichen wieder tendenziell zu. Gut jede und jeder dritte Schweizer Jugendliche ist äusserst oder ziemlich zuversichtlich, im Jahr 2020 teilte nur jede oder jeder vierte Jugendliche diesen Optimismus.

Am meisten glauben Schweizer Jugendliche, dass sie im Alter auf persönliche Ersparnisse und Investitionen zurückgreifen müssen, gefolgt von der AHV. Das eigene Ersparte ist in allen befragten Ländern die wichtigste Einkommensquelle im Alter. Für die eigene Altersvorsorge ist also jede und jeder selbst verantwortlich, was den Jugendlichen durchaus bewusst ist. In der Schweiz sind 60% der Jugendlichen der Ansicht, man sollte mehr oder viel mehr Eigenverantwortung bei der Altersvorsorge übernehmen. In den USA sind es gar 73%, in Singapur 82% und in Brasilien ganze 83% der Jugendlichen.

Sparen ist hoch im Kurs

Knapp 70% der Schweizer Jugendlichen kommen gut mit dem Geld zurecht, das ihnen zur Verfügung steht. Gäbe man Schweizer Jugendlichen 10’000 Franken bar auf die Hand, so würden sie gut ein Viertel davon aufs Sparkonto und weitere 1’000 für schwierige Zeiten auf die Seite legen. Auch fürs Eigenheim, die Familie oder die Altersvorsorge würden sie zusätzlich Geld sparen. Das Sparen steht bei Jugendlichen hoch im Kurs: Jede und jeder zweite Schweizer Jugendliche legt monatlich Geld auf die Seite. Zusätzliche 22% können zumindest in manchen Monaten etwas ansparen. Demgegenüber gibt erstmals eine Mehrheit der amerikanischen Jugendlichen an, mit dem monatlich im Haushalt zur Verfügung stehenden Geld eher nicht gut auszukommen. Die Bilanz am Monatsende ist unter amerikanischen Jugendlichen denn auch am wenigsten gut. Jede und jeder dritte junge US-Amerikanerin und Amerikaner kann jeden Monat sparen. Zusätzliche rund 25% können in manchen Monaten einen Teil des Verdienstes zur Seite legen.

Wohlstand als Mittel zum Zweck für ein gutes Leben

Auf die Frage, was ihnen persönlich wichtiger ist, Wohlstand oder Freiheit, antworten sämtliche befragten Jugendlichen mit Freiheit. Am stärksten ist die Tendenz zu einer höheren Gewichtung der Freiheit unter Jugendlichen in den USA, am schwächsten unter jungen Menschen in Brasilien.

Fragt man Schweizer Jugendliche nach ihren Zukunftsplänen, so nennen sie an erster Stelle viele Ideen/Dinge ausprobieren. Daneben ist es jungen Schweizerinnen und Schweizern wichtig, eine klare Lebensvorstellung zu haben. Alles Dinge, die auch bei Jugendlichen in den USA, Brasilien und Singapur zuoberst auf der Wunschliste für die eigene Zukunft stehen. Im Vergleich zu 2020 leicht abgenommen hat in der Schweiz der Wunsch zu arbeiten, um sich längere Auszeiten finanzieren zu können. Gleich wichtig geblieben ist Schweizer Jugendlichen, dass sie ein glückliches, wenngleich gutes Leben, wie ihre Eltern führen können.

Karriere zu machen, steht nur an vierzehnter Stelle der genannten Zukunftspläne von jungen Schweizerinnen und Schweizern. Zum Vergleich: bei jungen US-Amerikanerinnen und Amerikanern steht die Karriere noch an vierter, bei Jugendlichen in Singapur an siebter und bei jungen Brasilianerinnen und Brasilianern an elfter Stelle. Jugendliche in der Schweiz streben im Leben nach Freiheit und Flexibilität. Finanziell gut abgesichert zu sein, ist ein Mittel zur Verwirklichung der eigenen Träume und Lebenspläne.

Aussagen zum Thema Erfolg und Leistung

Politik soll für mehr Chancengleichheit sorgen 

Auch wenn 77% der Schweizerinnen und Schweizer der Ansicht sind, dass sie es mit harter Arbeit und vollem Einsatz im Leben zu etwas bringen kann, ist man sich bewusst, dass dafür nicht alle die gleichen Startbedingungen haben. Drei von vier jungen Schweizerinnen und Schweizern sind der Ansicht, die Politik sollte besser dafür sorgen, dass alle die gleichen Chancen haben im Leben. Junge Menschen in den USA, Brasilien und Singapur teilen die Forderung nach mehr Chancengleichheit an die Politik.

Auch wenn die sozialen Ungleichheiten, die dem Leistungsprinzip zugrunde liegen unter Jugendlichen durchaus bekannt sind: das Bewusstsein, dass jede und jeder seines eigenen Glückes Schmied ist - besonders wenn es um die finanzielle Sicherheit im Alter oder den Traum vom Eigenheim geht -, ist unter Jugendlichen in der Schweiz tief verankert. Die Meritokratie wird nicht mehr idealisiert, jedoch ist der Glaube an das Leistungsprinzip unter Jugendlichen immer noch intakt.