Die Energiekrise hat Bedenken hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie in Europa geweckt. Die Gas- und Strompreise schossen letztes Jahr auf Rekordwerte. Als Folge sind auch die Produktionskosten gestiegen, insbesondere im Vergleich zu anderen Standorten wie den USA. Dies könnte nicht nur zu kurzfristigen Herausforderungen für die Unternehmen führen, sondern auch langfristige strukturelle Veränderungen für Europa und die Schweiz als Industriestandort zur Folge haben. So ist es denkbar, dass beispielsweise gewisse Produktionsschritte ins Ausland verlagert werden.
Die Energiepreise sind indes nicht der einzige Grund für mögliche Veränderungen in der Industrie. Auch die Ungewissheit in der Energieversorgung spielt eine wichtige Rolle, da sie für die internationale Wettbewerbsfähigkeit von grosser Bedeutung ist.
Die Schweizer Industrie dürfte im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern weniger stark von den Ungewissheiten in der Energiekrise betroffen sein. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Einerseits ist die Energieintensität der Produktion tiefer. Für die Wertschöpfung wird hierzulande weniger Energie aufgewendet. Dies ist einerseits die Folge der Energieeffizienzverbesserungen der einzelnen Branchen, andererseits aber auch der Veränderung der Branchenzusammensetzung. Denn der Wertschöpfungsanteil der energieintensiven Industriebranchen ist in den letzten 20 Jahren von 34 auf 24 Prozent gesunken. Dies ist insbesondere auf das Wachstum der vergleichsweise weniger energieintensiven Pharmabranche zurückzuführen, auf die nunmehr 27 Prozent der hiesigen Industriewertschöpfung entfallen.
In der aktuellen Energiekrise ist relevant, wie hoch die Gas- und Stromkosten für die Produktion eines Sektors sind. Dabei gibt es je nach Branche allerdings grosse Unterschiede, der Anstieg der Energiekosten trifft somit nicht jeden Industriesektor gleichermassen. Über den höchsten Energiekostenanteil verfügt hierzulande die Papierbranche mit 6.7 Prozent. In der Mehrzahl der Sektoren, inklusive der für die Schweizer Wertschöpfung wichtigen, beträgt der Kostenanteil indes weniger als ein Prozent.
Zusätzlich zu diesen direkten Kosten kann der Effekt einer Mangellage oder gestiegener Preise auch indirekt über die Lieferketten durchsickern. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Produzenten von Inputfaktoren ihre Kosten weitergeben.
Doch nicht nur die Energiekosten spielen für die Unternehmen eine Rolle, sondern auch die Verfügbarkeit von Energie und die Stabilität der Versorgung. Die Schweiz bezieht rund 70 Prozent der Energie aus ausländischen Quellen. Sie ist damit stärker von Energieimporten aus dem Ausland abhängig als etwa Deutschland oder Frankreich.
Diese Energieabhängigkeit ist hauptsächlich auf fossile Energieträger sowie auf Kernbrennstoffe zurückzuführen, bei Strom hingegen ist die Schweiz Nettoexporteurin. Zu starke Abhängigkeiten können die Energiestabilität beeinflussen und erhöhen die Verletzlichkeit einer Wirtschaft. Da die Schweiz aber kaum über Rohstoffe verfügt, sind solche Abhängigkeiten allerdings nur schwer zu verhindern.
Im Zuge des Russland-Ukraine-Kriegs haben sich die Importstrukturen Europas bei Gas deutlich verändert. Indirekt haben sich dadurch auch die Schweizer Energieimporte diversifiziert. Grosse Teile des russischen Erdgases werden in Europa nun mit Importen von Flüssigerdgas kompensiert, das mehrheitlich aus den USA stammt. Katar wurde von den Vereinigten Staaten als Hauptlieferant des Rohstoffs auf den zweiten Platz verwiesen.
Die Analyse der unterschiedlichen Faktoren zeigt: Energieintensive Branchen sind auch in der Schweiz spürbar von der Energiekrise betroffen. Die Schweizer Industrie als Ganzes ist wegen der niedrigeren Energieintensität, dem geringeren Anteil der Energie- an den Gesamtkosten und dem hiesigen Branchenmix jedoch besser positioniert als ihre europäischen Pendants, um die Energie erfolgreich zu überstehen. Aufgrund der Importabhängigkeit der Schweiz als kleine offene Volkswirtschaft ergeben sich aber indirekte Vulnerabilitäten, sei es in der Wertschöpfungskette oder bei der Energieversorgung.