Parag Khanna Der prägendste geopolitische Trend der letzten Jahre besteht meines Erachtens darin, dass sich eine Koalition westlicher und östlicher Länder herausgebildet hat, die das Ziel verfolgt, koordiniert auf den Aufstieg Chinas zu reagieren. Im Grunde kann man sagen, dass der Aufstieg Chinas der wichtigste Trend der 2010er- Jahre war. Als Folge ist nun in den 2020er-Jahren eine strategische Neuausrichtung zu beobachten mit dem Ziel, Chinas aggressiven Ambitionen zu begegnen. Diese zeigt sich einerseits in Form von militärischen Allianzen wie dem «Quad»-Bündnis zwischen den USA, Indien, Japan und Australien sowie dem «AUKUS»-Bündnis zwischen Australien, Grossbritannien und den USA – und andererseits im Rahmen von handelsbezogenen technologischen sowie infrastrukturellen Bemühungen wie dem CHIPS-Gesetz (zur Verlagerung der Halbleiterproduktion aus der Region Grosschina in die USA und verbündete Staaten) und Build Back Better World («B3W»), um der Neuen Seidenstrasse Chinas mittels Vorzugszinsen zur Finanzierung der Infrastruktur von Entwicklungsländern ent-gegenzuwirken. Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass vor fünf Jahren noch keine dieser westlichen Initiativen existierte. Sie stellen ganz eindeutig eine Reaktion auf das Verhalten Chinas dar. Und damit rufen sie uns ins Gedächtnis, dass geopolitische Entwicklungen komplex sind und keineswegs linear verlaufen. Es geht jedoch nicht nur um den ungehinderten Aufstieg Chinas zur geopolitischen Vormachtstellung. Im Gegenteil – die jüngsten Trends deuten sogar auf eine noch multipolarere Welt hin.
Khanna Der Einmarsch Russlands in die Ukraine beschleunigt sicherlich gewisse Trends, die sich bereits zuvor abge-zeichnet hatten. Der erste betrifft Russlands eigenen Machtzerfall: hohe militärische Verluste, wirtschaftliche Kontraktion, diplomatische Isolation und Abwanderung von Fachkräften. All dies wird den bereits Jahrzehnte währenden Zerfall seit dem Untergang der Sowjetunion nur noch weiter beschleunigen. Derzeit gibt es keine Anzeichen dafür, dass Russland als Gesellschaft, Wirtschaftsraum und politisches System eine Kehrtwende schaffen kann. Russland orientiert sich immer weiter in Richtung Asien. Im Russland der frühen 2010er-Jahre suchte Putin zunehmend den Schulterschluss mit Asien. Dabei stärkte er die Verbindungen mit Indien, einem Verbündeten aus Zeiten des Kalten Krieges, sowie mit Japan und baute den Handel und Investitionen mit China aus. Viele westliche Diplomaten und Analysten waren überrascht, dass sich die Länder Asiens nicht geschlossen auf die Seite des Westens gestellt und die Invasion Russlands verurteilt haben. Ihnen ging es vorrangig darum, eine Unterbrechung der für ihre Volkswirtschaften wichtigen Öl- und Gaslieferungen zu verhindern. Zwar belasten die steigenden Ölpreise ihre Haushaltslage, doch sind nun neue Öl- und Gaspipelineprojekte vorgesehen, durch die Russland grössere Mengen an sie liefern kann. Während Europa jetzt versucht, sich möglichst schnell von Russland unabhängig zu machen, fasst Russland immer mehr Fuss im asiatischen System. Tatsächlich bezeichne ich Russland gern als «Nordasien», was geografisch gesehen schon immer korrekt war, aber nicht dazu passte, dass der Westen Russland als einen Staat wahrnahm, der sich zaghaft dem Westen annäherte. Davon kann mittlerweile keine Rede mehr sein. So gesehen folgt Russland dem Beispiel der Türkei – allerdings auf eine weitaus extremere Art und Weise. Denn die Türkei ist weiterhin NATO-Mitglied und strebt keine Autarkie an (ob freiwillig oder unfreiwillig). Doch sowohl Russland als auch die Türkei richten den Blick vermehrt gen Asien. Dabei geht es um Handel, Investitionen, Infrastruktur und Sicherheitsabkommen, wie etwa die Neue Seidenstrasse, die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank und die Schanghaier Organisation für Zusammen-arbeit.
Dr. Parag Khanna
Khanna Wirtschaftliche Massnahmen, Investitionsrestriktionen, Ressourcennationalismus und weitere Phänomene sind mittlerweile weltweit anzutreffen. Was einst freundlicher Wettbewerb zwischen Exportförderungsbehörden inmitten wachsender und sich vertiefender Interdependenz war, hat sich zu einem weitaus stärker geopolitisch motivierten Prozess des «Beggar-thy-neighbor»-Protektionismus entwickelt in Verbindung mit starken Sub-ventionen für Nearshore-Industrien. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich dieser Trend in den kommenden Jahren fortsetzen wird. Allerdings sehe ich darin auch einen Optimierungsprozess, der sich als Win-win-Situation entpuppen könnte. Zunächst könnte er inländische sozioökonomische Spannungen abbauen, indem Jobs geschaffen werden und vermehrt in die Produktivität und die Fähigkeiten der eigenen Bevölkerung investiert wird. Das könnte zwar die Inflation etwas in die Höhe treiben, doch lässt sich damit auch die industrielle Basis wieder aufbauen sowie die nationale Unabhängigkeit und Solidarität fördern. Zudem könnte dieser Trend der Umwelt zugutekommen. Gäbe es mehr regionale Energiemärkte, die auf Gas und erneuerbaren Energien aufbauen, anstatt weltweit Öl zu verschiffen, hätte dies einen positiven Effekt für unseren Planeten. Gleiches gilt für landwirtschaftliche Lieferketten, die für 15 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich sind. Gewissermassen ist mehr Unabhängigkeit sogar wünschenswert, wenn man es richtig angeht. Falls dieser Prozess zu einer Stabilisierung des Wachstums in den grossen Wirtschaftsräumen – Nordamerika, Europa, Asien – führt, werden Unternehmen mit Sicherheit weiterhin global agieren wollen. Denn sie sind auf die globalen Märkte und Gewinne angewiesen. Ich gehe davon aus, dass multinationale Unternehmen regionalere Strukturen annehmen werden, da sie lokalen Reglementen gerecht werden und «lokaler» erscheinen wollen, um so besser mit vor Ort etablierten Unternehmen konkurrieren zu können. Künftig könnte es daher weniger traditionelle multinationale Unternehmen und mehr Joint Ventures sowie Partnerschaften geben.
Dr. Parag Khanna ist ein international bekannter Experte und Bestsellerautor im Bereich Globalisierung. Er ist Gründer von FutureMap, einem Beratungsunternehmen, das auf geo-politische und wirtschaftliche Datenanalysen, Visualisierungen und Kartierungen spezialisiert ist. Parag Khanna hat mit seinem Fachwissen bereits zahlreiche Regierungen beraten, darunter etwa der U.S. National Intelligence Council. Er hat an der London School of Economics doktoriert.
Khanna Zunächst einmal sei gesagt, dass es jederzeit plötzlich zu Sanktionen kommen kann. Die gegenwärtige Situation zeigt eindrücklich, dass Unternehmen nie davon ausgehen sollten, dass sie stets reibungslos global operieren können. Dieser Fehler wurde von Managern in den 90er-Jahren bis zu den Anschlägen vom 11. September 2001 begangen und er wurde im Vorfeld der russischen Invasion in der Ukraine und der Verschärfung von chinesischen Technologievorschriften wiederholt. Zweitens sind Sanktionen meist kontraproduktiv, da sie dem Regime weniger schaden als der Bevölkerung und unseren eigenen Unternehmen, die sich plötzlich mit grossen Verlusten an wichtigen Märkten und dauerhafter Unsicherheit in ihren Lieferketten und Betrieben konfrontiert sehen. Drittens ist es heutzutage nahezu unmöglich, Länder gänzlich zu isolieren. In einer Welt multipolarer Multiallianzen gibt es wenig verbindliche Einheitlichkeit bei Sanktionen. Russland wendet sich beispielsweise China und Indien zu, ebenso der Iran. Und schliesslich neigen Sanktionen dazu, recht schnell im Sande zu verlaufen. Der chinesische Markt ist für westliche Unternehmen zu attraktiv, als dass sie ihn aufgeben würden. Westliche Unternehmen sind bereits im grossen Stil nach Saudi-Arabien zurückgekehrt. Ich kann mir gut vorstellen, dass man nach dem Krieg auch in Russland wieder vorsichtig Fuss zu fassen versucht. In Zeiten von Spannungen scheint dies unvorstellbar, doch meist bestimmen Angebot und Nachfrage das langfristige Szenario stärker als politische Überzeugungen.
Khanna Seit Langem betrachte ich kleine Staaten als Vorbilder in Sachen Regierungsführung, vor allem die Schweiz und Singapur (die beide eine zentrale Rolle in meinem Buch «Technocracy in America» einnehmen – der Titel der deutschen Übersetzung lautet «Jenseits von Demokratie»). Beide Länder sind offene Volkswirtschaften: innovativ, attraktiv für Fachkräfte und weltweit opportunistisch in ihren Handelsbeziehungen. Alle Länder sollten sich so verhalten. Freilich sind kleinen Staaten insofern die Hände gebunden, als sie das globale Umfeld von Konflikten und Regulierung nicht mitgestalten können. Aber deren fortwährende Leistungsfähigkeit beeinflusst trotz dieser Volatilität das Denken und Verhalten grösserer Staaten, da diese von kleineren Ländern in Sachen Effizienz der öffentlichen Ausgaben und Förderung von Innovationen lernen können. Die Schweiz blickt auf eine lange Tradition der Neutralität zurück und hält die Tür zum Dialog mit feindseligen Staaten wie Russland oder dem Iran stets offen. Diese wichtige Rolle wird von anderen Staaten nicht eingenommen und stellt doch einen fundamentalen Grundstein der Diplomatie dar. Ich habe grossen Respekt davor, wie die Schweiz uns immer wieder an den hohen Stellenwert diplomatischer Dialoge erinnert – insbesondere in Zeiten grosser Ungewissheit.