Die nominalen Renditen von Staatsanleihen waren in der Schweiz jahrzehntelang niedriger als in den meisten anderen Ländern weltweit. Diese Differenz wird auch als «Schweizer Zinsbonus» bezeichnet. Denn die Renditen für Staatsanleihen werden als Benchmark für die meisten Zinssätze in einer Volkswirtschaft herangezogen. Die Wirtschaft in der Schweiz hat folglich generell stärker von tieferen Zinsen profitiert als diejenige in anderen Ländern.
Der Zinsbonus verschwand aber für kurze Zeit. Seit Anfang der 2000er-Jahre bis zur COVID-19-Pandemie nahm die Differenz, insbesondere zwischen der Schweiz und europäischen Ländern, immer mehr ab. Während der Coronakrise gaben die Renditen 10-jähriger deutscher und niederländischer Staatsanleihen sogar unter ihre Schweizer Pendants nach. Die Nominalzinsen näherten sich nicht nur einander an, sondern fielen auch auf bisher beispiellose negative Werte. Damit war der Zinsbonus vorübergehend Geschichte.
Doch nun erlebt der Zinsbonus sein Comeback: Seit Anfang 2022 nimmt die Differenz zwischen den europäischen, insbesondere deutschen, und Schweizer Zinsen wieder zu. Vor allem letztere Relation ist interessant, weil die 10-jährigen Nominalrenditen in Deutschland und der Schweiz bis Anfang Mai 2022 im Gleichschritt anstiegen und sich dann entkoppelten. Seither hat sich die Zinsdifferenz kontinuierlich ausgeweitet und beläuft sich derzeit auf rund einen Prozentpunkt (Pp). Die Frage, die sich jetzt stellt, lautet: Wird dieser Unterschied Bestand haben?
Eine mögliche Antwort dürften hier die Inflationserwartungen bieten. Man schaue dazu folgendes Beispiel an: Die Rendite einer 10-jährigen deutschen Bundesanleihe stieg von einem Rekordtief von 0,9 Prozent am 9. März 2020 auf 2,9 Prozent am 31. Oktober 2022. Der Anstieg korreliert mit demjenigen der Inflationserwartungen: Die Finanzmärkte revidierten ihre Inflationserwartungen für die nächsten zehn Jahre von 0,6 Prozent p. a. am 9. März 2020 auf 2,4 Prozent p. a. am 31. Oktober 2022.
Für die Schweiz gibt es kein marktbasiertes Mass der Inflationserwartungen. Daher hat die Credit Suisse ein eigenes Mass konzipiert. Dieses leitet die Inflationserwartungen von der Zinsdifferenz zwischen den beiden Volkswirtschaften ab.
Dieses marktbasierte Mass der Inflationserwartungen für die Schweiz über die nächsten zehn Jahre signalisiert effektiv, dass sich die Schweizer und die deutschen Inflationserwartungen im Mai 2022 zu entkoppeln begannen. Für die Schweiz gingen sie kontinuierlich zurück, während sie für Deutschland etwa konstant blieben.
Diese Resultate legen nahe, dass die steigende Differenz zwischen 10-jährigen deutschen und Schweizer Staatsanleihenrenditen seit Mai 2022 im Wesentlichen durch eine höhere Inflationsprämie auf deutschen Zinsen bedingt ist. Zwei Faktoren dürften zu dieser Entwicklung beigetragen haben:
Wird nun der Schweizer Zinsbonus Bestand haben? Das dürfte von der Fähigkeit der Zentralbanken abhängen, die Inflation wieder auf die von ihnen definierten Werte für Preisstabilität zu drücken. In dieser Hinsicht scheint die Aufgabe der SNB einfacher als für andere Zentralbanken, weil die Teuerung in der Schweiz bereits tiefer ist. Zudem dürfte die Glaubwürdigkeit der SNB hinsichtlich der Wahrung der Preisstabilität höher sein. Schliesslich gilt: Solange die Inflationserwartungen auf lange Sicht hoch bleiben und die SNB ihr Inflationsziel nicht anhebt oder in ihren Bemühungen zur Senkung der Teuerung nachlässt, dürfte also der Schweizer Zinsbonus Bestand haben.