Nach einem verheerenden Taifun 2013 auf den Philippinen 2013 half das SRK beim Wiederaufbau.
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«Man darf sich Einzelschicksale nicht zu Herzen nehmen»

Thomas Büeler ist Nothilfe-Logistiker beim Schweizerischen Roten Kreuz (SRK). Er erzählt von seinem Einsatz auf den Philippinen, wo im November 2013 ein Taifun gewütet hatte. Büelers Aufgabe ist es, Ordnung ins Chaos zu bringen und einen kühlen Kopf zu bewahren. Denn die von einer Katastrophe Betroffenen, so der 41-Jährige, erwarteten Hilfe – und nicht Mitleid.

Vor fünf Jahren verbrachte ich mehrere Wochen auf den Philippinen. Zuerst auf den Inseln Cebu und Bantayan, dann in Ormoc City in der Provinz Leyte. Das ist im Zentrum des südostasiatischen Inselstaats. Am 8. November 2013 wurde die Region vom Taifun Haiyan getroffen, einem bis zu 300 km/h starken Wirbelsturm. Damals sind mehr als 6000 Menschen gestorben.

Als Nothilfe-Logistiker für das SRK habe ich die Aufgabe, Erstabklärungen für mögliche Response-Optionen zu machen. Das heisst, ich kläre im Katastrophenfall ab, mit welchen Sofortmassnahmen man der betroffenen Bevölkerung am schnellsten und effektivsten helfen kann. Nothilfe bezieht sich auf die elementaren menschlichen Bedürfnisse: Wasser, Nahrung, Medizin, Obdach und Sicherheit.

Copyright: SRK/Caspar Martig

Auf den Philippinen haben wir schnell gesehen, dass der Zerstörungsgrad von sicherem Obdach sehr hoch war. Das Trümmerfeld zog sich über die ganze Landschaft hin, das kaputte Baumaterial konnte unmöglich für den Wiederaufbau verwendet werden. Deshalb konzentrierten wir uns zuerst auf die Bereitstellung von Notunterkünften, damit die Leute nicht wegziehen mussten. Wir, das war ein Team von sechs Personen: ein Kollege des Philippinischen Roten Kreuzes, vier freiwillige Helfer aus den Dörfern und ich.

Das SRK ist selten der alleinige Akteur im Feld, sondern arbeitet mit Partnerorganisationen zusammen. Die nationalen Rotkreuzgesellschaften unterstützen die staatlichen Behörden bei der Bewältigung humanitärer Aufgaben. Wenn mehrere Rotkreuz-Gesellschaften gemeinsam im Einsatz sind, muss man sich natürlich absprechen, um einerseits diesem Mandat gerecht zu werden, andererseits aber auch den Bedürfnissen der Bevölkerung.

Das Trümmerfeld zog sich über die ganze Landschaft hin, das kaputte Baumaterial konnte unmöglich für den Wiederaufbau verwendet werden.

Wir überlegten uns, wie den vielen obdachlosen Leuten am besten geholfen werden konnte. Es gab drei Optionen: Baumaterial besorgen, Bargeld abgeben oder Zelte aufstellen. Wir entschieden uns für die erste und die zweite. Warum? Bantayan war weit weg vom nächsten Ort, wo man qualitativ gutes Baumaterial zu vorteilhaften Konditionen bekam. Der Transport war schwierig, und es war absehbar, dass die Preise wegen der hohen Nachfrage rasch steigen würden. Wir entschieden uns also, Baumaterial für 3000 Haushalte selbst einzukaufen und auf die Inseln zu schaffen. Dadurch konnten wir einerseits die nötige Qualität sicherstellen und anständige Preise erzielen; andererseits konnten wir bestimmen, welche Gebäude als Erstes wiederaufgebaut wurden. Es wollten natürlich alle zuerst drankommen, aber Priorität hatten kommunale Infrastrukturen und die am stärksten zerstörten Privathäuser. Mit dem Bargeld wurden lokale Baufachleute ausgebildet, rekrutiert und bezahlt. Damit schufen wir neue Jobs, die in der Landwirtschaft weggefallen waren: Der Taifun hatte die Bambus- und Kokosnussfarmen komplett zerstört. Indem diese Arbeiter zu Zimmerleuten umgeschult wurden, erreichten wir eine bessere Bauqualität und konnten Einkommen sichern. Neben dem zentralisierten Einkauf von Baumaterial lieferte also auch unsere cashbasierte Intervention einen grossen Mehrwert.

Der Wiederaufbau auf den Philippinen ist aus meiner Sicht sehr gut gelungen. Fünf Jahre nach der Katastrophe sind alle versprochenen Häuser erfolgreich übergeben. Das Beispiel zeigt, dass die Bewältigung nur unter gewissen Voraussetzungen gelingt. Als Erstes müssen die gesellschaftlichen Strukturen und die Marktkapazitäten, beispielsweise die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln und Medikamenten, wiederhergestellt werden. Dann braucht es einen Masterplan: Was ist machbar in welchem Zeitrahmen, zu welchem Preis und in welcher Qualität? Dieser Plan wird breit diskutiert mit dem Ziel, dass am Schluss alle damit einverstanden sind: Behörden, Wirtschaftsvertreter, Interessengruppen, die Bevölkerung. An solchen Informationsveranstaltungen wird es manchmal laut wie an einer Gemeindeversammlung in der Schweiz. Das ist verständlich, denn es wird immer Betroffene geben, die Hilfe verdient hätten und trotzdem zurückgestellt werden müssen, weil die Ressourcen leider nie für alle reichen.

Der Wiederaufbau auf den Philippinen ist aus meiner Sicht sehr gut gelungen.

Neben den organisatorischen Bedingungen muss auch das Persönliche stimmen, damit Katastrophenhilfe funktioniert und nachhaltig ist. Zum Beispiel ist die Sprache häufig eine Barriere. Zum Glück hatte ich auf den Philippinen immer einen Dolmetscher dabei, der mein Englisch übersetzte. Zweitens muss man auf seine Ernährung, seine Erholung, kurz: auf seine eigene Gesundheit achten. Man muss sich zwingen, trotz 16-Stunden-Tagen regelmässig zu trinken und zu essen. Und man sollte sich fünf bis sechs Stunden Schlaf gönnen. Wer das vernachlässigt, bekommt schnell Probleme: Dehydration, Thrombosen, Magen-Darm-Erkrankungen. Ein Nothilfe-Einsatz muss angegangen werden wie ein Marathon. Schliesslich darf man sich die Einzelschicksale nicht zu stark zu Herzen nehmen. Auf den Philippinen konnte ich mich gut distanzieren. Das war 2010 nach dem grossen Erdbeben in Haiti mit über 300 000 Toten und ebenso vielen Verletzten viel schwieriger. Das überall sichtbare psychische und physische Leid machte auch mich betroffen. Doch man muss sich vor Augen führen: Die Betroffenen erwarten nicht, dass wir mitleiden, sondern, dass wir helfen. Wir haben einen Auftrag zu erfüllen und gehen anschliessend wieder nach Hause.

Ein Einsatz dauert zwischen vier Wochen und drei Monaten. Wenn ich zurückkomme, gehe ich gern gleich ins Büro. Sofort Ferien zu machen, würde mir nicht guttun: Mein Körper braucht mehrere Tage, um herunterzufahren und die Anspannung abzuwerfen. Lieber zuerst den Bericht schreiben, die Abrechnungen und das Debriefing machen und dann eine Woche frei nehmen. Das letzte Mal im Nothilfe-Einsatz war ich im Oktober 2018 in Indonesien, nach dem Erdbeben und dem Tsunami auf Sulawesi. Zuvor hatte ich meine längste reine Bürophase in den zwölf Jahren, die ich beim SRK bin. In Bern warte ich aber nicht einfach Däumchen drehend auf den nächsten Call, sondern bin in der Katastrophenvorsorge tätig. Zusammen mit anderen Rotkreuz-Organisationen arbeite ich an sogenannten Disaster-Preparedness-Programmen für Länder wie Bosnien, Bhutan, Indonesien und Ägypten, mit Fokus auf die Logistik. Das sind Vorsorgepläne, die im Katastrophenfall greifen sollen, um Zeit und Geld zu sparen.

Die wahren Betroffenen erwarten nicht, dass wir mitleiden, sondern, dass wir helfen.

Zum SRK kam ich durch ein Inserat. Ich hätte nicht gedacht, dass sie mich nehmen, auch wenn ich schon mit einer französischen Hilfsorganisation ein Jahr in Somalia gewesen war. Das theoretische Rüstzeug habe ich mir nach meiner Ausbildung zum Maschinenzeichner/Konstrukteur und Technischer Kaufmann mit einem Nachdiplom in Risikomanagement und einem Master in Humanitarian Logistics and Management geholt. Familie habe ich nicht: Eine hohe Reisetätigkeit und unplanbare Abwesenheiten sind nicht sehr beziehungsförderlich. Das ist der Nachteil eines Jobs, der den Charme eines Abenteuers hat und viele schöne Momente beinhaltet – zum Beispiel dann, wenn wir bei Spendenaktionen den Rückhalt und die Hilfsbereitschaft der Schweizerinnen und Schweizer spüren. Natürlich gibt es auch frustrierende Aspekte wie die Bürokratie und Machtverschiebungen, zu denen es nach Katastrophen häufig kommt. Trotzdem: Es dauert zwar oft lang, die Welt zum Besseren zu wenden, aber wenn man richtig «investiert», kann man tatsächlich etwas erreichen.