In Genf steht das erste Elternhaus der Ronald McDonald Kinderstiftung Schweiz.
Artikel

«Man muss ein gutes Gespür für Menschen haben»

Anita Huber (60) beherbergt Familien in Ausnahmesituationen. Sie leitet die Ronald McDonald Elternhäuser Genf. Hier können Eltern in nur drei Minuten Gehdistanz zum Unispital wohnen, während ihre Kinder dort in Behandlung sind. Die Hausleiterin kümmert sich um die Administration und steht den Familien in schwierigen Momenten bei.

Ronald McDonald ist nicht nur das Maskottchen der gleichnamigen Restaurantkette. Der Clown steht auch Pate für die Ronald McDonald House Charities. In der Schweiz betreibt die Ronald McDonald Kinderstiftung sieben sogenannte Elternhäuser. Das sind Unterkünfte unweit von Spitälern, in denen Eltern kranker Kinder wohnen können. Dass diese räumliche Nähe wichtig ist, musste 1974 die Familie eines amerikanischen Footballspielers hautnah erfahren: Seine Tochter war an Leukämie erkrankt. Es kam zu einer grossangelegten Spendenaktion für ein Zuhause auf Zeit – eine Aktion, bei der McDonald’s-Gründer Ray Kroc jeden Spendendollar verdoppelte. Die Ronald McDonald House Charities waren geboren.

Anita Huber leitet seit 1994 das erste Schweizer Elternhaus in Genf. Die Zürcher Oberländerin zog bereits 1981 in die Romandie, wo sie als Direktionsassistentin für McDonald’s arbeitete und nach einem Unterbruch zur Kinderstiftung wechselte. Inzwischen gibt es weitere Häuser in Bern, St. Gallen, Basel, Bellinzona und Luzern. 2011 kam ein zweites Haus in Genf hinzu, für das Anita Huber ebenfalls verantwortlich ist. Die beiden Häuser haben insgesamt zehn Zimmer, entweder mit eigenem Bad und Gemeinschaftsküche oder mit eigener Küche und Etagenbädern. Die 60-Jährige erzählt, warum sie auch nach fast 25 Jahren immer noch mit Herzblut dabei ist.

Frau Huber, Sie bezeichnen sich als «Mutter» der Elternhäuser in Genf. Warum?

Wir sind ja ein temporäres Daheim für Familien in schwierigen Situationen. Da geht es nicht wie in einem Hotel nur um die Organisation der Reservationen und den korrekten Empfang der Gäste. Sondern auch darum, den Eltern, Geschwistern, Grosseltern usw. beizustehen, zuzuhören, einen Kaffee mit ihnen zu trinken, zu plaudern, damit sie auf andere Gedanken kommen.

Sie sind also auch eine Art Psychologin oder Seelsorgerin?

Wenn ich sehe, dass es jemand wirklich schwer hat, dann suche ich das Gespräch. Und wenn ich merke, jemand bleibt lieber allein, dann akzeptiere ich das natürlich. Man muss in diesem Job ein gutes Gespür für die Menschen haben.

Das Elternhaus ist rund um die Uhr offen. Sie beschäftigen aber nur eine Assistentin. Wie schaffen Sie das?

Wir teilen uns die Arbeitstage auf. Wenn ich zum Beispiel am Wochenende nicht da bin, dürfen mich die Familien jederzeit privat anrufen. Das kommt aber selten vor. Zudem haben wir auf jeder Etage unserer Häuser ein Notfalltelefon in Zusammenarbeit mit der Securitas. Es ist noch nie gebraucht worden.

Wissen Sie, wie viele Familien Sie seit der Eröffnung 1994 beherbergt haben?

Ja, genau 2521, und davon sind rund 85 Prozent Schweizer Familien. Die Zahl der Einschreibungen ist aber um etwa ein Drittel höher, weil Familien zum Teil mehrmals zu uns kommen müssen. Sei es wegen einer Kontrolluntersuchung oder wegen einer langwierigen Krankheitsgeschichte. Es gibt Familien, die ich alle sechs Monate wiedersehe. Leider, muss man fast sagen.

Ein gewisser Abstand tut übrigens auch den Eltern gut – vor allem jenen, die mehrere Monate bleiben müssen.

Wie ist damals das neue Angebot angekommen?

Im Unispital Genf mussten sie zuerst merken, welchen Zweck wir erfüllen. Das Angebot wurde aber schnell geschätzt, weil die Eltern zwar in der Nähe, sozusagen auf Abruf sind, aber nicht gerade ständig im Spitalzimmer des Kindes sitzen. Heute macht das Spital die Familien aktiv auf uns aufmerksam. Es ist ja wissenschaftlich bewiesen, dass die Nähe der Eltern zur Heilung des Kindes beiträgt. Den Eltern tut für ihr eigenes Wohl aber auch ein gewisser Abstand gut – vor allem jenen, die mehrere Monate bleiben müssen.

Wie organisieren sich Familien, deren Kind lange Zeit im Spital sein muss?

Glücklich sind jene, die für die Betreuung der Geschwister auf Grosseltern oder Freunde zählen können. Und jene, deren Arbeitgeber grosszügig sind und ihnen in den richtigen Situationen frei geben. Es kommt vor, dass Mütter allein sind, weil die Väter wieder arbeiten gehen müssen. In diesen Fällen sind auch Freundinnen bei uns willkommen.

Die Ronald McDonald Kinderstiftung Schweiz veröffentlicht Erfahrungsberichte von Eltern. Eine Mutter, die im Haus Luzern zu Gast war, schreibt Folgendes: «Am 6. November 2014 kamen unsere Zwillinge Vincent und Laurin zur Welt – ganze elf Wochen zu früh. Mit einem Gewicht von ungefähr 1 kg mussten sie in den Brutkasten und wurden beatmet. Für uns war es eine Zeit des Bangens und Hoffens. Nach knapp einer Woche hiess es für mich dann, das Spital zu verlassen – ohne meine Kinder. Leider ist es nicht möglich, auf der Neonatologie zu übernachten. So war ich unendlich dankbar, dass ich im Ronald McDonald Haus in der Nähe des Spitals ein Zimmer beziehen konnte. Während mehr als zehn Wochen war das Elternhaus mein Zuhause. Neben der Nähe zu den Kindern war der Austausch mit anderen Müttern in ähnlichen Situationen wie Balsam in einer Zeit voller Ungewissheit.»

Frau Huber, wie nah gehen Ihnen solche Geschichten?

Im Normallfall kann mich relativ gut abgrenzen. Schwierig sind Fälle, die mich immer wieder einholen. Familien, die immer wieder kommen müssen. Wenn der Befund einmal gut, dann wieder nicht gut ist … Solche Situationen sind wahnsinnig zermürbend. Dann leide auch ich mit.

Welcher Fall ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Eine Familie bangte eineinhalb Jahre lang um ihre ältere, krebskranke Tochter. Die Eltern hatten aber nur Visa für sechs Monate und musste immer wieder um die Einreise kämpfen. Ihre Dreijährige liessen sie daheim bei der Grossmutter. Als sie definitiv nach Hause zurückkehrten, war die Kleine fünf. Und ihre grosse Schwester ist gestorben. Eine traurige Geschichte. Zum Glück geht es bei unseren Familien meistens gut aus. Frühgeburten und krebskranke Kinder haben heute viel bessere Chancen. Und bei vielen Krankheiten ist die Aufenthaltsdauer im Spital viel kürzer geworden.

Bleiben Sie mit den Familien in Kontakt, entwickeln sich gar Freundschaften?

Das sind Ausnahmefälle. Die meisten Familien sind froh, wenn sie einfach wieder nach Hause gehen und diese Seite in ihrem Lebensbuch vergessen können. Manche kommen spontan vorbei, wenn sie in der Gegend sind. Ein junger Mann stand einmal vor der Tür, der vor einigen Jahren einen Skiunfall mit Gedächtnisverlust erlitten hatte. Er wollte nachvollziehen, was seine Eltern damals gemacht hatten, als er auf der Intensivstation gelegen hatte.

Schwierig sind Fälle, die mich immer wieder einholen. Familien, die immer wieder kommen müssen.

Die Familien sind dankbar für die Möglichkeit, gegen einen bescheidenen Betrag bei Ihnen wohnen zu können. Wie geht die Rechnung für Sie auf?

Die Familien zahlen 20 Franken pro Nacht und müssen ihr Zimmer in Ordnung halten. Damit ist nur ein Bruchteil der Kosten gedeckt. Für den Grossteil sind wir auf Spenden angewiesen, zum Beispiel aus dem Wechselgeld in den McDonald’s-Restaurants. Als langjährige Hausleiterin habe ich gute Kontakte in der Region. Ich kenne inzwischen viele Spender, grosse und kleine, und durfte schon mehrmals von der Tombola eines privat organisierten Fussballturniers profitieren. Schliesslich zeigen sich auch die Familien erkenntlich. Manche wollen am Kindergeburtstag keine Geschenke, sondern stellen ein Kässeli auf. Was mich besonders freut, ist, wenn das Mädchen oder der Bub das gesammelte Geld dann selber vorbeibringt.