Den Ruhestand überdenken
Die Finanzierung der dritten Lebensphase ist das Sorgenkind der Schweiz. Auch die geplanten Reformen greifen zu kurz – es ist an der Zeit, den grossen Wurf zu wagen.
Die Bevölkerung sorgt sich zunehmend um ihre Altersvorsorge. Gemäss dem aktuellen Sorgenbarometer der Credit Suisse nennen sie rund 37 Prozent der Befragten als das wichtigste Problem der Schweiz. Wäre nicht die Corona-Pandemie gewesen, wäre die Alterssicherung auch dieses Jahr zuoberst auf der Liste der grössten Sorgen gestanden. Und dies aus gutem Grund.
Es drohen Leistungskürzungen
Die AHV, die erste Säule des Schweizer Altersvorsorgesystems, gibt bereits heute mehr aus, als sie einnimmt, und die Finanzierungslage wird sich mit der bereits angelaufenen Pensionierungswelle der Babyboom-Generationen weiter verschlechtern. Über das kommende Jahrzehnt werden rund 1,1 Millionen Menschen ins Rentenalter kommen. In der beruflichen Vorsorge, der zweiten Säule, subventionieren Aktive aufgrund zu hoher Rentenversprechen Jahr für Jahr die Generation der Rentner in der Grössenordnung von fünf bis sieben Milliarden Franken. Wo ihnen die Hände durch das Gesetz nicht gebunden sind – im überobligatorischen Bereich −, nutzen Pensionskassen zunehmend ihren Spielraum und senken die Altersleistungen. Ohne Gegenmassnahmen verschlechtert sich die Rentensituation künftiger Generationen deutlich. Wir schätzen, dass die Ersatzquote – die Rentenbezüge aus der ersten und zweiten Säule im Verhältnis zum letzten Einkommen – für Personen im mittleren Einkommenssegment von 57 Prozent (2010) auf rund 45 Prozent (2025) sinken wird.
Nur kurze Verschnaufpause erreicht
Seit diesem Jahr fliessen dank der Steuerreform und AHV-Finanzierung (STAF) jährlich zwei Milliarden Franken zusätzlich in die AHV. Mit dieser Massnahme hat man der AHV aber lediglich eine Verschnaufpause verschafft. Mit der «AHV 21» versucht der Bundesrat nach dem Scheitern der Vorlage Altersvorsorge 2020 im Jahr 2017 einen Neuanlauf. Als Kernmassnahmen sind die Harmonisierung des Rentenalters bei 65 Jahren für Frauen und Männer sowie eine Erhöhung der Mehrwertsteuer vorgesehen. Eine Vernehmlassungsvorlage liegt auch für die berufliche Vorsorge vor, welche auf einem gemeinsamen Vorschlag der Sozialpartner beruht. Gewisse Aspekte gehen dabei, wenn auch zaghaft, in die richtige Richtung, wie die überfällige Reduktion des Mindestumwandlungssatzes von 6,8 auf 6 Prozent oder die Senkung des Koordinationsabzugs zur besseren Integration von Erwerbstätigen mit tiefem Beschäftigungsgrad.
Die zentrale Stellschraube Rentenalter bleibt bislang unangetastet. Das System der Altersvorsorge verkennt den demografischen Wandel, was steigende Ungleichgewichte zwischen den Generationen zur Folge hat. Gerade unter denjenigen, die erst in den kommenden Jahrzehnten in den Ruhestand gehen werden, macht sich grosse Ernüchterung breit. Im Credit Suisse Jugendbarometer steht die Altersvorsorge sogar an erster Stelle in der Rangliste der wichtigsten Probleme der Schweiz, vor der Corona-Pandemie. Eine Mehrheit der Jugendlichen findet zudem, dass Letztere die Reform der Altersvorsorge noch dringlicher gemacht hat.
Wünschenswert wäre ein grosser Wurf in der Vorsorgepolitik, wären vorausschauende Entscheide, welche nicht nur die demografische Alterung, sondern auch die Veränderungen in den Lebensmustern berücksichtigen. Die Grenzen zwischen den einzelnen Lebensphasen verwischen zusehends, diejenige zwischen Ausbildung und Erwerbstätigkeit über längere Ausbildungszeiten und lebenslanges Lernen, diejenige zwischen Erwerbstätigkeit und Ruhestand über den flexiblen Austritt aus dem Erwerbsleben und neue Arbeitsformen. Die Dreiteilung des Lebens in die Phasen Ausbildung, Erwerbstätigkeit und Ruhestand ist nicht mehr so starr wie früher und ist auch nicht in der Natur jedes Einzelnen festgeschrieben.
Neue Lebensphasen entstehen
Der Ruhestand als Lebensphase ist erst im 19. Jahrhundert mit den Frühformen der staatlichen Altersvorsorge entstanden. Die beobachtbaren Veränderungen in der Art und Weise, wie wir lernen und arbeiten, schaffen Raum für weitere Lebensphasen, die es in der Gestaltung der Vorsorgesysteme zu berücksichtigen gilt. Um die demografische «Zeitbombe» zu entschärfen und die Langlebigkeitsdividende freizusetzen, müssen wir den Ruhestand überdenken.