Im Warenhaus der Zukunft. Shopping in Peking.
Chinas neue Mittelschicht umfasst rund 400 Millionen Menschen und wird den globalen Handel fundamental verändern. Was kauft sie? Wie konsumiert sie? Auf Shoppingtour mit einer jungen Chinesin – und ein Blick in unsere Zukunft.
Mao Yueweng kann sich nicht entscheiden: Soll sie das rosa Oberteil von Nike kaufen, den roten Adidas-Pullover oder doch lieber das schwarze T-Shirt von Asics? Normalerweise würde der Kleiderkauf einen Spiessrutenlauf zwischen Kleiderständern, Spiegel und Ankleidekabine bedeuten, doch Yueweng steht im Pekinger Laden des Schweizer Sporthändlers Intersport – und hier ist einiges anders. Auf den 1300 Quadratmetern Verkaufsfläche geben das Internet, künstliche Intelligenz und «augmented reality» (erweiterte Realität) den Ton an.
Entspannt steht die 32-jährige Chinesin deshalb vor einem mannshohen interaktiven Bildschirm, auf dem ihr Gesicht und ihr Körper zu sehen sind. Eine lässige Handbewegung genügt, schon wechselt ihr digitales Ebenbild die Kleidung. Es geht hin und her zwischen rosa, schwarzem und rotem Oberteil, mal mit langen Ärmeln, mal mit kurzen, mal tailliert geschnitten und mal etwas weiter. Am rechten Bildschirmrand werden zum jeweiligen Oberteil passende kurze und lange Hosen eingeblendet. Würde Yueweng mit ihrem weissen iPhone den kleinen QR-Code darunter einscannen, könnte sie noch mehr über den jeweiligen Artikel erfahren. Doch schon so fällt es ihr schwer, sich zu entscheiden.
Yueweng gehört zu Chinas oft zitierter Mittelschicht, jenen rund 400 Millionen Menschen, die dank Chinas rasantem Aufstieg immer mehr Geld und damit auch immer mehr Möglichkeiten als Konsumentinnen und Konsumenten haben. Sie werden mit ihrem Kaufverhalten in den kommenden Jahren den globalen Einzelhandel verändern. Laut McKinsey betrug Chinas Anteil am globalen Onlinehandel vor rund zehn Jahren weniger als 1 Prozent. Heute sind es 42 Prozent. Das amerikanische Marktforschungsunternehmen Forrester rechnet damit, dass Chinas E-Commerce jedes Jahr um etwa 8,5 Prozent wachsen wird. Für 2022 rechnen die Experten mit einem Volumen von rund 1,8 Billionen Dollar – so viel wie die Märkte der USA, Europas und Japans zusammen. Vor allem ausländische Produkte sind bei der chinesischen Kundschaft beliebt. 2017 haben 67 Prozent der chinesischen Onlinekäufer amerikanische oder europäische Waren bestellt. Yuewengs iPhone war auch dabei.
Vermögenspyramide
In den letzten Jahren nahm das mittlere Vermögenssegment in China stark zu, 59% der Bevölkerung besitzen heute zwischen USD 10000 und 100000.
iPhone und guter Kaffee
Yueweng stammt aus der südostchinesischen Provinz Fujian und zog nach dem Schulabschluss in Chinas Hauptstadt. Sie ist ein Einzelkind, ganz wie es die jahrzehntelange Ein-Kind-Politik vorgeschrieben hat. Ihre Eltern, die sie einmal im Jahr besucht, würden ihr neues Leben nicht verstehen, erzählt Yueweng. Nach etlichen Gelegenheitsjobs arbeitet sie nun als Barista in einem Szenecafé nahe der bekannten Einkaufsstrasse Wangfujing, ihre Wohnung teilt sie mit vier anderen jungen Frauen. «Ich benötige nicht viel zum Leben», erzählt Yueweng. «Mein iPhone und einen guten Kaffee.» Und an diesem Tag ein neues Sportoberteil.
Noch immer steht Yueweng vor dem interaktiven Bildschirm, längst wechselt sie nicht mehr nur zwischen Kleidungsstücken hin und her, sondern testet gleichzeitig auch neue Frisuren für ihr digitales Ebenbild. Dann steigt sie die Treppen hinauf in den zweiten Stock des Sportgeschäfts. Hier erwartet die nächste interaktive Attraktion die Kunden: Eine riesige Videoleinwand mit Kamera und Sensoren fordert Yueweng auf, Szenen eines Basketballspiels nachzuahmen. Wie auf Kommando springt die junge Chinesin in ihren chinesischen Feiyue-Sneakern durch die Luft, simuliert einen Korbleger und reckt am Ende einen imaginären Pokal in die Höhe.
Kaum hat sie das virtuelle Spielfeld verlassen, piept ihr iPhone: Yueweng hat einen kleinen Comic über ihre zweiminütige Basketballkarriere auf ihr Smartphone geschickt bekommen. «Einkaufen soll bei uns mehr sein als Ware aussuchen und bezahlen», sagt Robin Trebbe, der Leiter des China- und Asiengeschäfts von Intersport. Der Kunde soll sich entspannen und etwas erleben. Bei Yueweng hat es funktioniert: Sie entscheidet sich schliesslich für das rosa Oberteil.
Die Resonanz auf die Intersport-Strategie, Online und Offline zusammenzubringen (abgekürzt O2O für «online to offline»), sei sehr positiv, erzählt Trebbe. «China und die Chinesen sind schlicht digital.» Rund die Hälfte des Umsatzes erwirtschafte man hier bereits durch E-Commerce, während der Anteil in Europa gerade einmal 10 Prozent betrage. Auch beim Bezahlen zeigt sich das unterschiedliche Konsumverhalten: Während in Europa noch immer Bargeld oder Kartenzahlung dominieren, zücken Chinesen wie Yueweng ihr Smartphone und zahlen online mit Diensten wie Alipay oder WePay. «Deutlich weniger als 10 Prozent der Kunden zahlen in unseren Geschäften noch mit Bargeld», sagt Trebbe.
Anteil am globalen Konsum
China ist für über 10% des globalen Konsums verantwortlich – Tendenz steigend.
On- und offline verschmelzen
Nach ihrem Basketball-Intermezzo hat es Yueweng eilig. Um 14 Uhr beginnt ihr Schichtdienst im Café und anschliessend kommen Freunde zum Essen vorbei. Zum Kochen bleibt keine Zeit mehr. «Aber uns Chinesen ist das Essen sehr wichtig», sagt Yueweng. «Alles muss frisch sein.»
Zielstrebig stürmt sie in den nahe gelegenen Hema-Supermarkt. Auf den ersten Blick scheint hier alles ganz normal. Alles sehr sauber und gut sortiert, Theken mit frischem Fleisch und Fisch, Regale mit Produkten aus der ganzen Welt. Und doch ist Hema besonders. Hinter der Kette steht der chinesische Internetgigant Alibaba, dessen Gründer Jack Ma nichts Geringeres vorhat, als den alltäglichen Konsum zu revolutionieren. Was im Intersport-Shop vorsichtig eingeführt wird, ist bei Hema die grundsätzliche Geschäftsidee: O2O – Online und Offline sollen vollkommen miteinander verschmelzen.
Herkömmliche Kassen sucht man im Hema-Laden vergebens. Vielmehr scannen die Kunden die Barcodes auf den Verpackungen selbst ein und begleichen anschliessend die Rechnung mit dem Smartphone. Hat man die Hema-App auf dem Smartphone und ist somit registrierter Kunde, kann man an einem Terminal beim Ausgang auch mittels Videoscan des Gesichts bezahlen. «Smile to Pay» heisst dieser Service: mit einem Lächeln bezahlen. Ob Buchläden, Cafés oder Supermärkte – immer mehr Läden in China bieten diese Technik an. Eine Zeitersparnis, die auch Yueweng zu schätzen weiss. Dass sie überhaupt in den Laden gehe, findet sie schon umständlich. Aber auch darauf nimmt Hema Rücksicht. Per App können die Kunden sämtliche Produkte online bestellen und bekommen diese innerhalb von 30 Minuten nach Hause geliefert.
Sparverhalten
Knapp 80% der Chinesinnen und Chinesen legen ihr Erspartes auf das Bankkonto (Mehrfachnennungen möglich).
Quellen: Credit Suisse Global Wealth Report 2018, Credit Suisse Emerging Consumer Survey 2019, Weltbank
Digital first
«Consumers O2O ist ein Geschäftsmodell, das den Einzelhandel vollkommen verändern wird», sagt Jeffrey Towson. «Nicht nur in China, sondern weltweit. Aber hier entwickelt sich alles wie im Zeitraffer.» Der Experte für E-Commerce nennt die hiesigen Konsumenten «digital first consumers» – Konsumenten, die alles online machen. Der erste Griff am Morgen geht zum Smartphone, der letzte am Abend ebenso. Rund 800 Millionen Internetnutzer gibt es in der Volksrepublik; 455 Millionen davon bezahlen täglich online. Schon 2016 führten Chinesen mit ihren Smartphones Transaktionen im Wert von 5,5 Billionen Dollar durch – das ist ungefähr 50-mal so viel wie in den USA, schätzt die Schanghaier Consultingfirma iResearch.
In China geschieht mittlerweile fast alles online: Ob einkaufen, Taxis bestellen, Fahrräder ausleihen, Sprachen lernen, Tickets kaufen – alles wird mit dem Smartphone abgewickelt. Und im Gegensatz zu Amerika und Europa sind Datenschutz und die Wahrung der Privatsphäre hier kaum ein Thema. Es wird alles gesammelt: von persönlichen Angaben, Vorlieben und Hobbys über Kauf- und Essgewohnheiten bis hin zu Angaben zu Freunden, Bekannten und Arbeitskollegen. Zudem hat man in China bestimmte Entwicklungsschritte schlicht übersprungen: Statt PCs haben Chinesen Smartphones, statt mit Kreditkarten bezahlt man in der Volksrepublik online. «All das macht es viel einfacher, mobile Angebote an die Leute zu bringen», erklärt Towson. Die Strategie der Unternehmen lautet simpel: «Rein in dein Smartphone.» So wie es beispielsweise das chinesische Start-up Luckin Coffee macht.
Während Yueweng durch die Gänge des Supermarkts streift, bekommt sie Lust auf einen Kaffee. Sie öffnet die App von Luckin Coffee. «Ich liebe eigentlich selber gebrauten Kaffee, aber jetzt im Supermarkt geht es eben nicht anders», sagt die junge Chinesin. Im Gegensatz zu Tee ist Kaffee in China etwas überaus Neues, eine Modeerscheinung. Die stetig wachsende Branche wurde bislang von Starbucks dominiert: Mit landesweit mehr als 3300 Filialen und rund fünf Millionen Kunden pro Woche beherrscht die amerikanische Kaffeekette knapp 75 Prozent des chinesischen Kaffeemarkts.
Doch nun gibt es Luckin Coffee – und das chinesische Start-up legt ein atemberaubendes Tempo an den Tag: Innerhalb von nur vier Monaten eröffnete es 525 Filialen – das sind zwei oder drei neue Kaffeehäuser pro Tag. In einer ersten Investitionsrunde sammelte man mehr als 200 Millionen Dollar, laut Experten ist Luckin längst ein «Einhorn» – ein Start-up-Unternehmen mit einem Wert von mehr als einer Milliarde Dollar. Während Starbucks vor allem auf prestigeträchtige Standorte setzt, punktet Luckin Coffee mit digitaler Bequemlichkeit: von mobilem Bezahlen bis hin zum minutenschnellen Liefern der bestellten Produkte.
Gleichzeitig profitiert Luckin Coffee von einem zweiten Trend: Immer mehr Chinesen bevorzugen einheimische Marken und fast täglich werden hier neue Start-ups gegründet. Im Sportbereich kämpfen Nike und Adidas gegen Li-Ning und Anta, im Smartphone-Geschäft heisst es Apple gegen Huawei und Xiaomi, und auf der Strasse hiess das Duell lange Zeit Uber gegen Didi Chuxing, ehe Uber seinen Rückzug aus China verkündete.
Die Hersteller aus dem Westen müssen sich in Zukunft auf einen härteren Konkurrenzkampf einstellen. Ein Label wie «Made in Switzerland» oder Markennamen wie Apple oder Starbucks reichen längst nicht mehr aus, um die chinesischen Kunden für sich zu gewinnen. Da trifft es sich gut, dass Chinas Regierung während des Volkskongresses im März ein neues Investitionsgesetz vorgestellt hat, um ausländischen Unternehmen den Zugang zum chinesischen Markt zu erleichtern.
Vom Luxus- zum Massenprodukt
Yueweng hat sich einen Luckin-Flat-White ausgesucht. In 20 Minuten soll ihr Kaffee da sein, wird ihr per Nachricht mitgeteilt. Und statt 35 Yuan (5 Franken 20) bei Starbucks verlangt Luckin Coffee 22 Yuan (3 Franken 30) – zu bezahlen natürlich virtuell via Alipay oder den Luckin-Kaffeegeldbeutel, einen firmeneigenen Online-Bezahlservice. Durch das Online-Angebot, den schnellen Lieferservice und den tieferen Preis schaffe man sich eine eigene Kundenschicht, erklärt Towson. «Luckin verwandelt ein vermeintliches Luxusprodukt in ein Massenprodukt und vergrössert dadurch den bestehenden Absatzmarkt.» Einen ähnlichen Ansatz haben vor einigen Jahren auch die chinesischen Elektronikhersteller Huawei und Xiaomi gegenüber Apples iPhone verfolgt.
Derweil sucht Yueweng die Zutaten für das Abendessen mit ihren Freunden aus. In der Gemüse- und Obstabteilung ist alles bereits vorgeschnitten und abgepackt. Hie und da scannt sie die Barcodes auf den Verpackungen und erfährt so auf ihrem Smartphone, wer der Produzent des jeweiligen Produkts ist, und sie erhält Rezeptvorschläge. Als sie die Beilagen zusammen hat, geht es weiter zur Fischtheke. Dort schwimmen Hummer, Shrimps und etliche Fischarten in Dutzenden Wasserbecken. Yueweng will gerade bestellen, da steuert sie ein junger Mann mit Motorradhelm an und drückt ihr unversehens eine hellbraune Tüte mit dem Luckin-Coffee-Logo in die Hand. 17 Minuten nach ihrer Bestellung nippt sie an ihrem heissen Flat White. Dann wendet sie sich wieder den Shrimps zu. Auch hier geht alles blitzschnell: Heute Abend zur ausgemachten Uhrzeit, für sechs Personen, scharf angebraten, alles zu ihr nach Hause – so lautet die Bestellung.
Zurück auf der Strasse ist Yueweng wieder in ihr Smartphone vertieft. Gleich beginnt ihre Schicht, sie benötigt zehn Minuten zu ihrem Arbeitsort. Fehlt nur noch das Fahrrad. Es ist ein weiteres O2O-Geschäftsfeld, auf dem sich die Anbieter einen erbitterten Kampf liefern: Orange-silberne Räder gehören zu Mobike, die knallgelben sind von OfO, die blauen Drahtesel stellt das Fahrdienstunternehmen Didi Chuxing. Millionen von ihnen stehen auf Chinas Strassen. Yueweng entdeckt ein blaues Gefährt. Was dann folgt, ist keine Überraschung mehr: Sie zückt ihr Smartphone und scannt den QR-Code auf dem hinteren Schutzblech. Als das Schloss aufspringt, schwingt sich die junge Chinesin auf den Sattel und verschwindet im Pekinger Strassenverkehr.