Grosse Rochade bei den Sorgen
Die Pandemie? Vergessen. Der Krieg in der Ukraine? Schlimm, nicht zuletzt wegen der Versorgungsunsicherheit. Doch wirklich Sorgen bereiten der Bevölkerung vor allem die Umweltbelastung und die Altersvorsorge.
Beim Sorgenbarometer interessiert zum einen, welche Sorgen die vordersten Plätze belegen, zum anderen, welche viel diskutierten Hauptprobleme vom Sorgenradar der Bevölkerung kaum erfasst werden. Da ist zuallererst die Covid-19-Pandemie zu nennen, klarer Spitzenreiter in den Jahren 2020 (51%) und 2021 (40%). Sie ist offensichtlich zu einem Alltagsproblem (13%) geworden. Die Bevölkerung hat mit der Pandemie leben gelernt. Das ist erfreulich und spricht in einem schwierigen und emotional aufgeladenen Umfeld von einem alles in allem richtigen Verhalten von Politik, Gesundheitswesen, Wirtschaft und Medien. Angesichts von mittlerweile mehreren Millionen Opfern weltweit sollte allerdings keine Sorglosigkeit um sich greifen.
2020 hat das Sorgenbarometer nach den mutmasslichen pandemiebedingten Veränderungen bis 2023 gefragt: 76 Prozent gingen damals von einem Anstieg der Arbeitslosigkeit aus. Dazu passt, dass die Arbeitslosigkeit 2020 mit 31 Prozent wieder auf den dritten Platz kletterte, nachdem sie – mit Höchstwerten von 89 Prozent (1993) und 76 Prozent (2010) die «Hauptsorge aller Zeiten» – zwischenzeitlich recht weit zurückgegangen war. Die Befürchtungen können bis jetzt aber abgewendet werden. Dieses Jahr wird die Arbeitslosigkeit wie im Vorjahr nur von 14 Prozent der Bevölkerung genannt.
Ukraine-Krieg wirkt sich aus
Wie aber widerspiegelt sich der am 24. Februar gestartete Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine im Sorgenbarometer? Direkt als Sorge bezeichnet wird dieser Krieg von 20 Prozent der Bevölkerung. Doch mindestens drei weitere Spitzensorgen lassen sich in einen Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg bringen. Erstmals genannt wird von 21 Prozent die Versorgungsunsicherheit in Bezug auf Energie, Medikamente und Nahrungsmittel. Massiv angestiegen sind passenderweise auch die Sorgen über Energiefragen generell (Energiefragen/Kernenergie) mit 25 Prozent (+11 Prozentpunkte, pp). Während es bei der ersten Sorge primär um die Sicherstellung der Versorgung in unsicheren Zeiten und im Winter geht, dürfte die Sorge über Energiefragen die Energiezukunft generell betreffen – also die Frage, wie die Energiestrategie der Schweiz in den kommenden Jahren aussieht und wo Kompromisse im Bereich Umwelt, Landschaftsschutz oder auch bei Technologien wie der Kernkraft dafür in Kauf genommen werden müssen. Ebenfalls klar angestiegen sind die Sorgen um Teuerung und Inflation mit 24 Prozent (+16pp) sowie um den Benzin- und Erdölpreis mit 14 Prozent (+8pp). Die Gefährdung beziehungsweise die Notwendigkeit einer Neudefinition der Neutralität wird von 13 Prozent als Problem wahrgenommen.
Spitzenreiter Umwelt und Altersvorsorge
Zuoberst auf dem Sorgenbarometer findet man die Belastung der Umwelt (Klimawandel, Umweltkatastrophen, Umweltschutz). Diese Sorge wird wie im Vorjahr von 39 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer geteilt. Das ist der höchste Wert seit 1995 und ein markanter Anstieg seit 2006 (+22pp), doch bis zu den Rekordwerten der Jahre 1988 bis 1991 (61 bis 74%) ist es immer noch sehr weit.
Die Abstimmung über die AHV-Revision vom 25. September – die Sorgenbarometerumfrage hat vorher stattgefunden – zeitigt keine besonderen Auswirkungen auf das Sorgenphänomen Altersvorsorge. Sie wird von 37 Prozent (–2pp) genannt. Dies überrascht nicht, weil die Altersvorsorge sich seit 1993 stets in den (negativen) Spitzenpositionen befindet, mit Werten zwischen 27 Prozent (2007) und 59 Prozent (2003). Mit der Erhöhung des Rentenalters der Frauen ist die Finanzierung der AHV kurzfristig gesichert, doch das Problem der Altersvorsorge insgesamt ist nicht abschliessend gelöst. Sie wird somit wohl eine Hauptsorge bleiben.
Das Schweizer Verhältnis zur Europäischen Union, von 25 Prozent (–8pp) als Problem bezeichnet, wird in einem separaten Artikel thematisiert. Das Gesundheitswesen – wie Arbeitslosigkeit und Altersvorsorge eine traditionelle Hauptsorge – wird noch von 24 Prozent (–1%) genannt, nachdem es 2018 und 2019 hohe 41 Prozent gewesen sind. Der Rückgang ist mit der Stabilisierung der Krankenkassenprämien zu erklären, beim aktuellen Resultat schwingt allerdings mit, dass die deutliche Prämienerhöhung auf 2023 noch nicht kommuniziert gewesen ist. Erst nächstes Jahr wird sich zeigen, ob das kantonal unterschiedlich ausgestaltete Instrument der individuellen Prämienverbilligung die gewünschte Wirkung zeigt.
Die Zuwanderung in die Schweiz wird von 19 Prozent (–1pp) als Problem genannt, konkretisiert auf Flüchtlinge und Asylsuchende sind es 16 Prozent (+3pp). Beides liegt relativ deutlich unter dem langjährigen Trend.
Was belastet Parteiunabhängige?
Betrachtet man die Sorgen, wie sie sich für die einzelnen Parteien und ihre Sympathisantinnen und Sympathisanten stellen, so fällt auf, wie gross die Diskrepanz beim Thema Umweltschutz ist – zwischen der Priorisierung durch die Grünen (75%) und die SVP (18%) liegt eine Differenz von 57 Prozentpunkten, beim Thema Zuwanderung/Ausländer sind es, wiederum mit den gleichen Parteien, immer noch 30 Prozentpunkte. Danach folgen drei Themen mit über 20 Prozentpunkten Differenz (Inflation, Flüchtlinge, EU), während bei den übrigen Hauptsorgen zumindest Einigkeit darüber herrscht, wie bedrohlich sie für die Schweiz sind.
Mit Blick auf künftige Wahlen mag ein Blick auf die Sorgengewichtung der parteiunabhängigen Stimmbürgerinnen und Stimmbürger von Interesse sein. Bei ihnen stehen Gesundheitsfragen und Krankenkassenprämien (34%) zuoberst, gefolgt von der Umwelt (33%), der Teuerung (32%), der Altersvorsorge (31%) sowie, schon mit deutlichem Abstand, von der Versorgungssicherheit und den Wohnkosten (je 21%). Die anderen Problemkreise spielen eine weniger wichtige Rolle, sind aber doch aussagekräftig, weil sie teilweise vom Sorgenkanon der Parteien abweichen: Energiefragen (17%), Krieg in der Ukraine und Zuwanderung (je 16%), Bildungswesen und Zusammenleben in der Schweiz (je 15%) sowie globale Abhängigkeiten, Erdölpreis und Beziehungen zur EU (je 14%) und schliesslich auch noch Arbeitslosigkeit, tiefe Löhne und die Flüchtlingsfrage (je 13%).
Es sieht so aus, als ob sich viele dieser Parteiunabhängigen mit Blick auf die nähere Zukunft Sorgen um ihre finanzielle Situation machen. Die Einschätzung der aktuellen individuellen wirtschaftlichen Lage weist zwar noch keine Abweichungen gegenüber den Vorjahren auf: 65 Prozent (+0) der Bevölkerung bezeichnen sie als gut oder sehr gut, lediglich 6 Prozent (+0) als schlecht. Der Blick auf die kommenden zwölf Monate zeigt aber ein deutlich anderes Bild [vgl. Grafik2]. Zwar glauben elf Prozent (–1pp) an eine Verbesserung ihrer Situation, doch nicht weniger als 19 Prozent (+9pp) befürchten eine Verschlechterung. So viele sind es in den 27 Jahren, in denen diese Frage erhoben wird, noch nie gewesen. Dementsprechend ist die grosse Mehrheit jener, die ihre Situation als gleichbleibend einstufen, mit 66 Prozent (–9pp) auf ein bisheriges Minimum zusammengeschmolzen.
Neue Armut verhindern
Aus Sicht der parteiunabhängigen Stimmbürgerschaft kommt eine «neue» Herausforderung auf die Gesellschaft zu: Es gilt, der verstärkt drohenden neuen Armut entgegenzuwirken. Für 17 Prozent der Parteiunabhängigen ist die neue Armut eines der Hauptprobleme – bei den Parteien hingegen ist sie gemäss Sorgenbarometer kaum auf dem Radar. In der Mitte sind es 5 Prozent, bei FDP und GLP 8 Prozent, bei der SVP 9 Prozent, und selbst bei SP (11%) und GPS (13%) sind es eher wenige Mitglieder und Sympathisantinnen und Sympathisanten, welche dieses Phänomen als problematisch gewichten.
Vor diesem Hintergrund beruhigt, dass gleichzeitig das Vertrauen in die vier wichtigen Institutionen Polizei, Bundesgericht, Nationalbank und Bundesrat gross und stabil ist. Auf tieferem Niveau gilt das Gleiche, sogar mit einer leicht steigenden Tendenz, auch für die übrigen befragten Institutionen, so etwa Stände- und Nationalrat und politische Parteien. Und auch der Stolz, Schweizerin oder Schweizer zu sein, ist zwar tendenziell leicht abnehmend, mit 77 Prozent (–1pp) aber nach wie vor sehr hoch. Die Voraussetzungen zur Bekämpfung der neuen Armut und anderer Dauersorgen der Bevölkerung scheinen entsprechend gegeben.