Wie die Kultur das Anlageverhalten beeinflusst
Eine aktuelle Studie belegt: Das Anlegerverhalten unterscheidet sich weltweit von Region zu Region. So tolerieren Anleger aus angelsächsischen Ländern die grössten Verluste, während Anleger aus dem deutschen Sprachraum und aus Skandinavien am geduldigsten sind. Das beeinflusst Anlagestrategien und Renditen auf den Finanzmärkten.
Laut traditioneller Sicht hat Anlegen vor allem mit Geld zu tun. Man sollte also erwarten, dass Geduld und Risikoeinstellung vom Vermögen und Wirtschaftsumfeld des Anlegers abhängt.
Demzufolge hätte ein amerikanischer Anleger dieselbe Risikoaversion und Geduld wie ein deutscher oder chinesischer Anleger, wenn sie über dasselbe Vermögen verfügen und in einem ähnlichen Wirtschaftsumfeld (Inflation, Arbeitsplatzsicherheit usw.) leben würden. Aber ist das wirklich so? Professor Thorsten Hens vom Swiss Finance Institute an der Universität Zürich wollte es genauer wissen. Zusammen mit Mei Wang und Marc Oliver Rieger hat er eine weltweite Studie zu Geduld und Risikoaversion durchgeführt und im Dezember 2014 mit Unterstützung der Credit Suisse im White Paper «Behavioral Finance: The Psychology of Investing» zusammengefasst. Diese Studie belegt, dass der kulturelle Hintergrund von Bedeutung ist. «Wir waren überrascht, wie sehr Kultur das Anlageverhalten von Personen bestimmt, selbst wenn Kontrollvariablen wie Inflationsraten oder angesammeltes Vermögen in Betracht gezogen wurden», so Hens.
7000 Studenten in 52 Ländern befragt
Zwischen 2000 und 2009 wurden in 52 Ländern weltweit Standardfragebögen mit 30 sozioökonomischen Fragen an knapp 7000 VWL-Studenten im Grundstudium verteilt. In das Studienergebnis wurden nur Länder mit über 100 Teilnehmern aufgenommen. Die Umfragen wurden übersetzt und an die Landeswährung und örtlichen Lebensstandards angepasst, um die Antworten so vergleichbar wie möglich zu machen. «Es war ein riesiger Aufwand. Wir mussten z. B. chinesische und europäische Studenten an US-Universitäten ausschliessen, um sicherzustellen, dass die Antworten nur den kulturellen Hintergrund von US-Studenten widerspiegeln», erklärt Hens.
Osteuropäische Anleger sind risikoscheuer
Die Studie zeigt die Auswirkung kultureller Unterschiede auf das Anlageverhalten und wie der kulturelle Hintergrund eines Landes die Renditen auf den Finanzmärkten beeinflussen kann. «In der Studie haben meine Mitarbeiterin Nilufer Caliskan und ich Anzeichen dafür gefunden, dass die Überrendite durch Wertbasiertes Anlegen, die sogenannte Value Prämie, in Ländern mit ungeduldigeren Anlegern mit hoher Risikoaversion, wie Rumänien, Litauen und Russland, höher ist», erläutert Thorsten Hens. Unter der Value Prämie versteht man die Differenz zwischen den erwarteten Renditen von Value-Aktien gegenüber Wachstumsaktien. Anders ausgedrückt sind osteuropäische Anleger bereit, weniger für Value-Aktien zu zahlen als z.B. Anleger aus nordischen Ländern, die geduldiger sind und eine geringere Risikoaversion haben. «Ähnliches haben wir bei der Überrendite von Aktien über den risikofreien Zins gefunden», sagt Hens. Die Risikoprämie auf Aktien ist in den angelsächsischen Ländern wie den USA und Grossbritannien am niedrigsten und in Schwellenregionen wie Lateinamerika und Osteuropa am höchsten. Anleger in angelsächsischen Ländern sind also bereit, mehr für Aktien zu zahlen als Anleger in anderen Ländern.
Mehr «Ego-Trader» in den USA als anderswo
Ein weiteres interessantes Ergebnis war, dass das Marktmomentum stark mit dem Grad des Individualismus in den befragten Ländern korreliert. «In individualistischen Ländern gibt es mehr «Ego-Trader», die schnelle Gewinne erzielen wollen, was zu einem höheren Marktmomentum führt», so Hens und führt die USA als Beispiel an. In geduldigeren Ländern wie Skandinavien und Deutschland gibt es mehr «Value-Investoren», die auf höhere Renditen warten können, anstatt dem kurzfristigen Marktmomentum nachzulaufen. Am ungeduldigsten sind die Anleger in Afrika. Bei den befragten afrikanischen Studenten kam es am häufigsten vor, dass sie in ihrer Antwort eine Zahlung von 340 Dollar diesen Monat einem Betrag von 380 Dollar im nächsten Monat vorziehen. Dies kann zum Teil mit den relativ hohen Inflationsraten und geringem Wohlstand der Region erklärt werden, kulturelle Faktoren spielen aber auch eine Rolle.
Amerikaner und Afrikaner mit ähnlicher Risikoaversion
Beim Vergleich der Antworten der Umfrage gab es weniger Ähnlichkeiten bei vergleichbaren kulturellen Regionen, als die Autoren zu Beginn der Studie erwartet hatten. «Ich hätte eine höhere Korrelation im Anlageverhalten von Anlegern in Regionen mit ähnlichen Wirtschaftsbedingungen erwartet, aber es gab kein Muster. Zum Beispiel gibt es eine sehr hohe Risikoaversion in Osteuropa. Wir vermuteten einen ähnlichen Grad in Afrika, einem weiteren Schwellenländer-Kontinent. Doch in Afrika haben Anleger eine viel geringere Risikoaversion, womit sie eher angelsächsischen Anleger ähneln», sagt Andrea Cuomo, Leiter UHNWI Centro Sur bei der Credit Suisse, der ebenfalls an der Studie beteiligt war. Geduld war in afrikanischen Ländern am niedrigsten und in Nordeuropa und Deutschland am höchsten. US-Amerikaner waren ziemlich ungeduldig. «Es war überraschend, dass Amerikaner, obwohl sie in einer gut organisierten Gesellschaft leben und im Vergleich mit anderen kulturellen Regionen wohlhabend sind, so ungeduldig sind», so Professor Hens.
Die wohlhabendsten Anleger werden weniger von Emotionen geleitet
In seiner täglichen Arbeit in der Bank erlebt Andrea Cuomo nicht nur, dass sich Anlageverhalten zwischen kulturellen Regionen, sondern auch zwischen Kundensegmenten unterscheidet. «Kulturelle Unterschiede sind im High-Net-Worth-Segment ausgeprägter als im Ultra-High-Net-Worth-Segment». Ein High-Net-Worth-Kunde ist ein Anleger mit investierbarem Vermögen von über USD 1 Mio., ein Ultra-High-Net-Worth-Kunde (UHNWI) hat ein investierbares Vermögen von über USD 50 Mio. «Wohlhabendere Anleger neigen dazu, Aussagen zur Anlagepolitik genauer zu folgen, während kleinere Portfolios emotionaler sind», bemerkt Cuomo. In praktisch allen Anlageportfolios widerspiegelt sich dagegen die Neigung der Anleger, ihren Heimmarkt zu bevorzugen (Home Bias). «Lateinamerikanische Anleihen sind beispielsweise eine sehr wichtige Sub-Anlageklasse bei lateinamerikanischen Kunden, weniger in den Portfolios von europäischen Kunden», fügt Cuomo hinzu.
Anpassung des Beratungsprozesses an verschiedene kulturelle Merkmale
Thorsten Hens glaubt, dass Finanzinstitute davon profitieren würden, diese kulturellen Unterschiede bei der Kundenberatung zu beachten. «Zum Beispiel delegieren europäische Kunden gerne ihre Anlagen und entscheiden sich oft für Vermögensverwaltungsmandate. Asiatische Anleger im vergleichbaren Alter und mit vergleichbarem Vermögensprofil delegieren nicht gerne, sondern bevorzugen üblicherweise Beratungsmandate. Banken müssen sich solcher kulturellen Unterschiede bewusst sein und ihr Angebot differenzieren.» Der Beratungsprozess bei der Credit Suisse integriert z.B. bereits die Auswirkungen von kulturellen Unterschieden, was die Fehler in Zusammenhang mit Behavioural Finance verringern sollte. Ein weiteres verwendetes Tool ist das sogenannte «Profiling» der Risikobereitschaft von Kunden, eine Einschätzung ihrer emotionalen Einstellung bezüglich des Portfoliomanagements. Diese zwei Tools bieten Kunden zusätzlichen Schutz, indem sie die Auswirkungen einer Behavioural-Finance-Neigung reduzieren.
Kulturelle Unterschiede sollten sich im Laufe der Zeit nivellieren
Mit anhaltender Globalisierung, einer steigenden Anzahl von Studenten mit Zugang zu traditionellen Finanzprodukten, die westlich geprägte Universitäten besuchen und einen ähnlichen Lebensstil haben, sollten sich kulturelle Unterschiede im Laufe der Zeit nivellieren. Eine von Geert Hofstede 1979 durchgeführte und von Thorsten Hens und seinen Koautoren 30 Jahre später wiederholte Studie deutet darauf hin. «Der Lebensstil der Menschen ist in der Regel amerikanischer, materialistischer als vor 30 Jahren. Variationen sind geringer, und es gibt eine Tendenz hin zu einer grösseren Konvergenz. In letzter Zeit hat die Verbreitung des Internets enorm zur Beschleunigung der Globalisierung beigetragen.»