Einen neuen Ansatz in der Entwicklungshilfe
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Einen neuen Ansatz in der Entwicklungshilfe

Der Ökonom Abhijit Banerjee und seine Frau Esther Duflo haben die Entwicklungshilfe revolutioniert: Als Erste setzten sie vergleichende Feldstudien ein, um herauszufinden, was wirkt und was nicht.

Professor Banerjee, Ihr Buch «Poor Economics» von 2011 sorgte weltweit für Furore, weil Sie die Entwicklungshilfe mit Experimenten angehen.

Um zu wissen, was funktioniert, braucht es vergleichende Feldstudien: Wir stellten also über eine längere Zeit Bevölkerungsgruppen, die Hilfe erhalten, Gruppen gegenüber, die keine oder weniger Hilfe erhalten. Das war unser wichtigster Beitrag. Mit dieser Methode können wir wirksame Massnahmen identifizieren, ohne gleich das ganze System über den Haufen zu werfen. Wir kommen nicht und sagen: «Das ist der grosse Wurf, so löst ihr alle Probleme.» Wir zeigen vielmehr, wie man innerhalb der vorgegebenen Grenzen Nützliches bewirken kann, Schritt für Schritt. Wir sagen: «Lasst uns zuerst herausfinden, was genau das Problem ist.» Das ist erst einmal ziemlich langweilig und braucht viel Geduld.

Wie funktioniert wirksame Entwicklungshilfe?

Wir schnürten ein Paket für sehr arme Menschen und versorgten sie mit produktiven Gütern, wie zum Beispiel Vieh, sowie mit Jobtraining, Zugang zu einem Sparkonto und kurzfristiger Konsumunterstützung in Form von Geld. Das Resultat: Bereits drei Jahre nach der Intervention war Hunger weniger verbreitet als in der Kontrollgruppe, die keine Unterstützung erhielt. Sowohl das Einkommen und die Sparquote als auch der Konsum und der Wohlstand stiegen. Und das funktionierte überall, in Äthiopien, in Indien und in Peru. Heute, zehn Jahre danach, können wir sagen, dass dieses Programm nachhaltig wirkt.

Es heisst, Bildung sei der Schlüssel zur Entwicklung. Stimmt das?

Vergleicht man Individuen und nicht Länder, so stellt man auf jeden Fall fest, dass Bildung sowohl das Einkommen als auch die Lebensqualität verbessert. Aber wir haben auch herausgefunden, dass die Lernniveaus in den Ländern trotz höheren Einschulungsraten oft zu wünschen übrig lassen.

Wieso?

Der Hauptgrund ist ein übermässig ehrgeiziger, einheitlicher und formalisierter Lehrplan, der nicht auf individuelle Lernlücken Rücksicht nimmt. Wir haben darum ein Programm entwickelt, das wir TaRL nennen: «Teaching at the Right Level» [auf Deutsch: auf dem richtigen Niveau unterrichten, Anm. d. Red.]. Der Grundgedanke ist, dass man Kinder nach Leistungsniveaus gruppieren und ihre individuellen Lernlücken identifizieren sollte.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?

Nehmen wir einen Schüler, der Mühe mit der Subtraktion hat, obwohl er schon älter ist und sie eigentlich beherrschen müsste. Diese Lücke muss man zuerst erkennen und dann schliessen. Wir haben das an mehreren Orten in Ghana und Indien ausprobiert. Das Resultat: In nur 50 Tagen konzentrierten Unterrichts haben es Schüler der niedrigsten Leistungsstufe geschafft, in einem Fach in eine der höchsten Leistungsstufen aufzusteigen. So können wir erreichen, dass jedes Kind die schulischen Grundfähigkeiten gut erlernt.

Die Ärmsten können den Kampf gegen die Armut gewinnen.

Wenn der Präsident eines armen Landes Sie fragen würde, wie er das Leben seiner Bürger verbessern könnte, was wäre Ihre Antwort?

Finden Sie heraus, wo Sie die sprichwörtlichen tief hängenden Früchte ernten können, also mit welchen Massnahmen Sie mit wenig Aufwand viel erreichen können. Das ist für jedes Land anders. Manchmal ist es das Schulsystem, manchmal das Gesundheitswesen oder der Zugang zu Krediten.

Dann würde ich versuchen, Sie davon zu überzeugen, genügend Geld in qualitativ hochwertige Dienstleistungen für die armen Bevölkerungsschichten zu investieren, inklusive kostengünstigen Zugangs zu guten Schulen, präventiver medizinischer Versorgung und Krankenhäusern.

Könnte ein bedingungsloses Grundeinkommen eine einfache Lösung für arme Länder sein?

Ja, wenn sich die Menschen dadurch ermächtigt fühlen und ihr Leben in die eigene Hand nehmen. Es könnte aber auch passieren, dass sich die Menschen weniger anstrengen, weil sie Geld bekommen. Wir haben dazu in Kenia ein sehr grosses Experiment gestartet: In den nächsten 12 Jahren erhalten 6000 Menschen in 40 Dörfern 23 Dollar pro Monat. Dies entspricht ungefähr der Grenze zur absoluten Armut. Wir vergleichen sie mit zwei Kontrollgruppen; die eine erhält das Geld nur zwei Jahre lang und die andere erhält gar nichts. So werden wir herausfinden, ob das bedingungslose Grundeinkommen eine Lösung sein könnte.

Sinn und Zweck der Entwicklungshilfe werden von Kritikern immer wieder hinterfragt. Was ist der grösste Fehler dieser Industrie, die eigentlich Gutes tun möchte?

Man hat oft zu grosses Vertrauen in die eigene Eingebung. Ich treffe häufig Entwicklungsexperten, die mir sagen, sie wüssten eindeutig, wo die Ursache für die Armut liege und was die Lösung dafür sei. Ich frage sie dann jeweils, woher sie das so genau wüssten, was die Fakten und Beweise seien. Dann kommt oft wenig zurück.

Was ist das grösste Missverständnis in den reichen Ländern in Bezug auf die Menschen in armen Ländern?

Dass die Ärmsten der Welt keine Wahl haben oder aus kulturellen Gründen unfähig sind, ihr Leben zu verbessern. Auch das wollen wir mit unseren Experimenten beweisen: Die Ärmsten können – mit der richtigen Hilfe – den Kampf gegen die Armut gewinnen.